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Wie das Patriarchat Kriege begünstigt

Autorenbild: Meret Yannice WältiMeret Yannice Wälti

Eine feministische Analyse


Der Krieg in der Ukraine, ausgelöst durch männlichen Grössenwahn und imperiale Herrschaftsgelüste, wirft einmal mehr die Frage auf, was es mit Männern und Krieg auf sich hat. Dieser Krieg zeigt in schrecklichem Ausmass, inwiefern die von Männern geführten Kriege das Leben etlicher Menschen zerstören. Zeitgleich kämpfen Frauen in einer Vielzahl von Ländern an vorderster Front für ein friedlicheres Zusammenleben und gegen patriarchale Herrschende: Im von den Taliban zurückeroberten Afghanistan stehen Mädchen und Frauen für ihr Recht auf Bildung ein, während das zivile Aufbegehren im Iran als «feministische Revolution» betitelt wird. Der kurdisch-feministische Slogan «Jin, Jîyan, Azadî» (Frauen, Leben, Freiheit) ertönt im ganzen Land und ver- sinnbildlicht den von iranischen Frauen, Queers und politisch-ethnischen Minderheiten angeführten Aufstand. Männer führen Kriege und Frauen stiften Frieden, könnte man schliessen. Obwohl diese Aussage essenzialisierend und vereinfachend ist, trifft sie in vielen Fällen zu: Denn patriarchale Gesellschaftsstrukturen begünstigen bewiesenermassen kriegerische Auseinandersetzungen. Um binärem Denken entgegenzuwirken und das Zusammenspiel von Patriarchat und Krieg wirklich zu verstehen, bedarf es einer tiefergreifenden, feministischen Analyse.


Feministische Kriegs- und Friedensforschung

Feministische Kriegs- und Friedensforschung betont in einem ersten Schritt, dass es keine universelle und statische Definition von Krieg und Frieden gibt, sondern dass dies fluide, orts-, kontext- und zeitabhängige Prozesse sind. Das feministische Ziel besteht darin, bereits vorhandenes Wissen zu «verkomplizieren» sowie Kontextualität, Mehrdeutig- keiten und Überschneidungen hervorzuheben. So werden der Status Quo und die Erkenntnisse der «traditionellen»Kriegsforschung, einschliesslich der binären Gegenüberstellung von Krieg und Frieden, kritisch beleuchtet. Das binäre Verständnis von Krieg und Frieden suggeriert, dass aus einer «friedlichen» Situation heraus mit dem ersten Geschützfeuer ein Krieg begonnen wird, der mit dem unterschriebenen Friedensvertrag ähnlich abrupt wieder endet.


Feministische Forscherinnen dekonstruieren Binaritäten und zeigen, dass Krieg und Frieden sich nicht «ablösen», sondern dass Krieg als «Kontinuum von Gewalt» zu verstehen ist. Krieg und Frieden können, so die indische Kriegsforscherin Swati Parashar, koexistieren: «Menschen leben in Kriegen, mit Kriegen, und der Krieg lebt mit ihnen lange nachdem er beendet ist. Kriege beginnen im Frieden und es gibt Frieden im Krieg.» Ausserdem gibt es Formen des Friedens, die von Gewalt durchtränkt sind: Dabei handelt es sich laut der Forscherin Sara Shroff in Anlehnung an Franz Fanon um «friedliche Gewalt» und somit um Zustände des «geregelten Friedens», welcher in (direkter oder struktureller) Gewalt verwurzelt ist.


Krieg wird unterschiedlich erlebt

Eine feministische Analyse schafft ein Verständnis dafür, dass Menschen abhängig von ihrer geschlechtlichen Identität, äusserlichen Erscheinung, ethnischer und Klassenzugehörigkeit sowie sexueller Orientierung in Kriegen zwar ähnlichen Situationen ausgesetzt sind, diese aber auf andere Art und Weise erleben. Fakt ist laut der Schweizer Politikwissenschaftlerin und Geschlechterforscherin Leandra Bias, dass alle Menschen unter Krieg leiden, es aber bei geschlechtsspezifischer Friedensforschung darum geht, aufzuzeigen, wer wie leidet. Während Männer eher von «direkter Waffengewalt» (zum Beispiel: im Gefecht erschossen werden) betroffen sind, leiden Frauen häufiger unter den Konsequenzen «indirekter Gewalt»: Sie bangen um und verlieren Familienangehörige, müssen alleine flüchten und ihre Familien ernähren und leiden häufiger unter sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt.


Intersektionalität in Konflikten

Nebst der Geschlechtsidentität beeinflussen auch die Hautfarbe, sichtbare ethnische oder religiöse Zugehörigkeiten und Nationalität die Kriegserfahrungen. So wurde afrikanischen Studierenden in der Ukraine beim Kriegsausbruch aufgrund ihrer Hautfarbe der Eintritt in die Züge nach Polen und Ungarn verweigert. Viele von ihnen, die es doch in einen der Züge geschafft hatten, durften schliesslich an den polnischen und ungarischen Grenzen nicht passieren. Dieses Beispiel zeigt, inwiefern Minderheiten in Konflikten besonders vulnerabel sind. Während im Iran und in Afghanistan alle Bürger:innen unter den Gewalttaten der Regierenden leiden, werden religiöse respektive ethnische Minderheiten noch stärker bedroht (in Ersterem christliche Minderheiten und in Letzterem ethnische Minderheiten wie die «Hazara»).


Unsere Gesellschaft sieht alles durch die Brille der Geschlechterrollen: Etwas vom Ersten, das Menschen unbewusst tun, wenn sie einer fremden Person begegnen, ist, ihr ein Geschlecht zuzuordnen. In Anbetracht dessen, dass unser soziales Geschlecht beeinflusst, wie wir uns verhalten und wahrgenommen werden, scheint es nichts als logisch, dass Geschlechterrollen auch in Kriegen eine zentrale Wichtigkeit einnehmen. So existieren stereotypische Zuschreibungen gegenüber Männern und Frauen im Krieg: 1993 beschrieb der Militärhistoriker John Keegan Kriegsführung als eine «rein männliche Aktivität», von welcher sich Frauen «immer und überall» ferngehalten hätten. Denn: «Frauen kämpfen nie – in militärischem Sinne – gegen Männer.» Da die Geschlechtszugehörigkeit die Kriegserfahrungen von Menschen enorm stark beeinflusst, wird Kriegsführung als «vergeschlechtlichtes» Phänomen definiert.


Männliche und weibliche Kriegsstereotypen

Kriegsführung als «vergeschlechtlichte» Praxis wird typi- scherweise mit einer Männlichkeit assoziiert, die auf Stärke, Mut, Aggression und Gewalt basiert. Der typische Krieger im kollektiven Gedächtnis ist männlich, physisch stark, aggressiv, mutig und zeigt keine Schwäche. Demgegenüber werden Frauen in Kriegsgeschichten stereotypisch als «schöne Seelen» dargestellt, Kriegsopfer oder Friedensstifterinnen, die vom männlichen Krieger beschützt werden müssen. Da Frauen als schwach und unpolitisch gelten – als Symbol des Guten und als Trägerinnen der nationalen Identität – müssen sie von allem Bösen ferngehalten werden. Sie sollen nichts mit kriegerischen Aktivitäten zu tun haben, sondern Liebe und Nahrung für die Kämpfer bereitstellen, den Krieg moralisch unterstützen und neue Soldaten gebären. Während weibliche Handlungsmacht und politisch-militärische Beteiligung negiert werden, gerät gleichzeitig in Vergessenheit, dass auch Männer nicht nur stereotypisch männliche Aktivitäten durchführen, sondern während Kriegen auch nähen, kochen, waschen und Verwundete pflegen.


Friedliche Männer und kriegerische Frauen

Obwohl es zutrifft, dass Männer in Kriegen grundsätzlich als bewaffnete Soldaten eingesetzt werden und Frauen eherunbewaffnete Rollen einnehmen, gibt es diverse Beispiele von Kriegsbeteiligten, die ihre zugewiesene Geschlechterrolle dekonstruierten. So weigerte sich der US-amerikanische Soldat Desmond Doss im Zweiten Weltkrieg, sich zu bewaffnen und andere Soldaten zu töten. Er verpflichtete sich ausschliesslich, als Sanitäter auszuhelfen und rettete 75 Kameraden, ohne jemals eine Waffe zu berühren. Während viele Männer den Kriegsdienst verweigern – so auch in der Ukraine und in Russland –, gibt es Frauen, die in den bewaffneten Krieg ziehen wollen. So existierte in Westafrika bereits im 19. Jahrhundert die aus Frauen bestehende, brutale Eliteeinheit «Agojie», die die Region militärisch dominierte (siehe aktueller Film «The Woman King»). Für Schlagzeilen sorgen auch die YPJ (Yekîneyên Parastina Jin), eine rein weibliche, kurdische, militärische Frauenverteidigungseinheit und politische Organisation aus Rojava in Syrien. Sie erlangte 2014 internationale Aufmerksamkeit, weil sie den ISIS erfolgreich aus der Region vertrieben hatte, und wird weltweit für ihren Mut gefeiert.


In unseren Gesellschaften existieren verschiedene Männlich- und Weiblichkeitsbilder, welche konstruiert, aber auch verhandel- und transformierbar sind. In Kriegskontexten werden Weiblich- und Männlichkeiten immer wieder politisch mobilisiert: Laut Leandra Bias sei Putin ein Paradebeispiel für dieses Phänomen, weil er die Ukraine immer wieder «verweibliche» und in seinen Reden als eine Art Frau darstelle. Während er sich als Topless-Bärenkämpfer fotografieren lässt und so eine stereotypische Männlichkeit reproduziert, ist die Ukraine seine Unterworfene, die er mit Gewalt «bändigen» muss. Das Beispiel von Putins Russland zeige auf, inwiefern ein stark patriarchales Weltbild Kriege begünstigt: Denn Putins maskulinistische Aussenpolitik beruht auf einer imperialen Ideologie, bei der der Stärkere den Schwächeren dominiert – wie auch im Patriarchat.


Das Patriarchat tötet

Unter Patriarchat wird wortwörtlich «Väterherrschaft» oder «Vaterrecht» verstanden. Kristina Lunz, feministische Aktivistin, Autorin und Gründerin des «Centre for Feminist Foreign Policy» beschreibt das Patriarchat in einer ihrer Kolumnen als «Gesellschaftsordnung, in der das männliche Familienoberhaupt die rechtliche und ökonomische Macht über die von ihm abhängigen weiblichen und männlichen Familienmitglieder ausübt». Es ist laut Lunz nicht das Geschlecht – denn wenn wir geboren werden, haben wir dasselbe Gewaltpotential. Es ist vielmehr die Machtkonzentration, die zu Machtmissbrauch führt, den Männern Macht gibt und männliche Gewalt gegenüber Frauen legitimiert.


Feministische Organisationen weisen seit Jahrzehnten darauf hin, wie Militarisierung, Kriegsführung und Patriarchat zusammenhängen. Sie zeigen auf, dass alle Arten von Waffenbesitz dazu beitragen, dass geschlechtsspezifische Gewalt ermöglicht und ausgeübt wird. Beispielsweise ist Schusswaffengewalt für viele sexuelle und geschlechtliche Minderheiten ein grosses Problem. So wurden 2017 60% aller getöteten LGBTQI+-Personen in den USA durch Schusswaffen getötet. Laut einer Studie von Small Arms Survey 2012 wurden Frauen bei einem Drittel aller Femi-zide weltweit durch eine Schusswaffe getötet und zudem ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Opfer häuslicher Gewalt getötet wird, fünfmal höher, wenn der Partner Zugang zu einer Schusswaffe hat. Abrüstung und Waffensicherheitsgesetze können Leben retten und verhindern, dass Waffen als Mittel der Einschüchterung, des Zwangs und Missbrauchs eingesetzt werden.


Feministische Friedensforschung zeigt, dass Aufrüstung und Militarisierung das Leben der Menschen nicht schützen, sondern gefährden. Trotz wissenschaftlicher Evidenz und breiten Abrüstungsforderungen stiegen die weltweiten Militärausgaben 2022 das siebente Jahr in Folge und erreichten im Jahr 2021 einen historischen Höchststand. Weltweit steigen die Rüstungsausgaben konstant an, sogar bei Nuklearwaffen, die seit Januar 2021 unter internatio- nalem Recht verboten sind. Auch die Schweizer Rüstungsindustrie erreichte 2020 ihr Allzeithoch. Während Staaten ihre Grenzen militärisch verteidigen, fordern feministische Friedensaktivist:innen Abrüstung, Demilitarisierung, weniger Grenzschutz und Abschreckungspolitik. Menschliche Sicherheit fokussiert deshalb auf das Wohlergehen der Zivilbevölkerung, auf Ernährungssicherheit, Gesundheit, Jobsicherheit, Umweltschutz und sozialen Fortschritt.


Feministische Aussen- und Sicherheitspolitik

Im letzten Jahrzehnt haben verschiedene Staaten begonnen, ihre Aussenpolitik als feministisch zu bezeichnen. Schweden hat 2014 eine feministische Aussenpolitik eingeführt, gefolgt von Kanada, Frankreich, Luxemburg, Mexiko, Spanien und Kolumbien. Obwohl ihre Umsetzung aufgrund von Inkohärenz und Doppelmoral oft kritisiert wird, hat sie hohes Potential, da sie Menschenrechte von Frauen, Mädchen und anderen politischen Minderheiten in die aussenpolitischen Ziele eines Landes integriert. Feministische Aussenpolitik bedeutet, dass in aussenpolitischen Verhandlungen konsequent eine Genderperspektive eingebaut wird, Minderheiten einbezogen werden, Armut bekämpft und der Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung garantiert wird. Eine kohärente feministische Politik muss auch innenpolitische Massnahmen einschliessen, wie beispielsweise eine Umverteilung von Ressourcen. Bias schlägt vor, anstatt Milliarden ins Verteidigungsdepartement zu stecken, ein Friedendepartement zu gründen und darin zu investieren.


Feministische Politik hilft nicht nur Frauen

Im Kontext der Aussenpolitik bedeutet Feminismus konsequenterweise, die bestehenden Hierarchien in internationalen Beziehungen abzubauen sowie den Glauben, man müsse andere Staaten durch militärische Stärke und Waffengewalt dominieren, um selbst stark zu sein. Die Ansicht, dass zwischenstaatliche Probleme mit Waffengewalt gelöst werden müssten, weil alles andere als schwach und «verweiblicht» gilt, muss verschwinden, denn diese Logik garantiert weder menschliche Sicherheit noch nachhaltigen Frieden. Wichtig ist, dass sich eine feministische (Frie- dens-)Politik nicht nur auf Frauen bezieht: «Es ist unmenschlich, dass Männer im Krieg als Waffen eingesetzt werden, sowie die Traumatisierung, die damit einhergeht. Den Männern wird die Verwundbarkeit abgesprochen», meint Leandra Bias.


Empirische Analysen von feministischen Forschenden beweisen, dass die Unterdrückung von Frauen direkt mit dem Wohlergehen von Nationen zusammenhängt. Lunz argumentiert, dass jene Gesellschaften, die Frauen am meisten missachten, massiv instabil seien und geprägt von schlech- terer Regierungsführung, schlimmeren Konflikten, geringerer Wirtschaftsleistung, schlechter Gesundheit, weniger Umweltschutz und Ernährungssicherheit. Ausserdem sind Friedensabkommen erwiesenermassen nachhaltiger und längerfristiger, wenn Frauen an den Friedensverhandlungen beteiligt sind. Dies nicht, weil sie friedvollere Wesen sind, sondern weil sie diversere Interessen einbringen und auch andere marginalisierte Gruppen wie indigene Bevöl- kerungsschichten und Menschen mit Behinderung einbeziehen. Wenn ein Friedensabkommen von breiten Schichten der Bevölkerung abgestützt wird, dann hält der Frieden massiv länger.


Der Kampf geht weiter

Immer dann, wenn feministische Bewegungen an den Grundfesten des Patriarchats rütteln, schlägt das Patriarchat mit aller Wucht zurück. So ist ein globaler antifeministischer Rückschlag zu beobachten, welcher die Menschenrechte von Frauen und LGBTQI+-Menschen zu untergraben versucht. Die Abtreibungsverbote in Polen und den USA, die Ermordungen von Frauen und queeren Menschen im Iran und die Untergrabung der Prinzipien der feministischen Aussenpolitik durch die neue schwedische konservative Regierung versinnbildlichen diesen Backlash. Diese Entwicklungen sollen uns nicht entmutigen, sondern motivieren, weiterhin und überall gegen patriarchale, koloniale und rassistische Strukturen aufzubegehren.


Für Frauen, Leben und Freiheit.







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