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- Erschöpfung mit 26 – und weshalb soziale Beschleunigung politisch ist
Ich habe schon länger nichts mehr publiziert. Nicht,weil ich nicht mehr geschrieben habe, sondern weil es mir nicht gelungen ist, etwas zu schreiben, das meinen Ansprüchen entsprach. In den letzten Monaten bestanden meine Notizen vorwiegend aus deprimierenden Wortfetzen, die wenig sinnstiftend und viel zu persönlich für die Öffentlichkeit sind. Ich schrieb über meine Erschöpfung, Überforderung und fehlende Resilienz sowie darüber, wie ausgebrannt, leer und energielos ich mich fühlte. Ihren Anfang nahm die Anspannung während meines Masterstudiums, das mir so viel abverlangte, dass ich tagelang nicht das Haus verliess und wochenlang nicht allein, ohne Wein oder Entspannungsbad einschlafen konnte. Ein Studium, das mich so sehr unter Druck setzte, dass ich meine sozialen Beziehungen und diese zu mir selbst vernachlässigte. Ein Studium, bei welchem uns in der ersten Woche der psychologische Dienst vorgestellt wurde, weil sie damit rechneten, dass in diesem Jahr reihenweise Studierende zusammenbrechen werden. Ich hatte das Angebot nie genutzt, obwohl ich einige Male während des Verfassens meiner Masterarbeit das Gefühl hatte, kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Doch die Empfindung, die mich damals vor allem überkam, war Scham, denn Überforderung war nichts, was ich mit meinem Selbstbild vereinbaren konnte, da ich doch meine Ziele meist mit Leichtigkeit und ohne grossen Aufwand erreichte. Mentale Überbelastung zählte ich nicht zu meiner Realität, denn bisher hatte ich das Spiel des Konkurrenzkampfes und der Performanz beherrscht. Ich habe die Warnsignale also weitgehend ignoriert und mich in den nächsten Wettbewerb gestürzt, namentlich in die Stellensuche. Da ich monatelang gesucht und nichts in meinem Bereich gefunden habe, ging ich zurück in die Schweiz, meldete mich beim RAV an und suchte nach Beschäftigungsmöglichkeiten. Ich arbeitete als Stellvertreterin – 24 Lektionen pro Woche – und schrieb währenddessen rund 60 Bewerbungen. Schliesslich wurde mir eine Praktikumsstelle angeboten, die ich annahm und nach zwei Monaten wieder kündigte, da sie meinen Geist noch mehr erschöpfte als die Stellensuche selbst. Bald nach meiner Kündigung bekam ich die Arbeitsstelle in Quito, wo ich momentan arbeite. Als ich das Praktikum in der Schweiz beendete, kam der Stillstand und somit die Erschöpfung: Jede Nacht schlief ich ungefähr 12 Stunden und zusätzlich 2-3 Stunden nachmittags, sofern ich mich überhaupt überwinden konnte, aufzustehen. Ich hatte weder Energie, etwas zu lesen, jemanden zu treffen, noch mich zu bewegen. Ich war komplett erschöpft, deprimiert, lustlos und wollte niemandem begegnen, mich am liebsten verkriechen. Ich wollte in meinem Bett bleiben und in die Leere starren. Ich schämte mich für den Fakt, dass ich jetzt mal Zeit gehabt hätte und dafür, dass ‘gar nichts passiert ist’ und ich mich trotzdem so ausgelaugt fühlte. Die Psychotherapie, die ich seit Februar machte, half mir zwar weiter, aber trotzdem verbesserte sich meine Gemütslage kaum. Ich fühlte mich depressiv, paralysiert, ängstlich und vor allem leer. Zu fest in meinen Gedanken und zu wenig in meinem Körper. Die Verbindung zu meinem Körper und meinen Emotionen hatte ich verloren und geniessen konnte ich kaum etwas. Einige Male versuchte ich, die Natur und die ‘kleinen Dinge’ wertzuschätzen, aber es gelang mir nicht. Ich fühlte mich gefangen in meinem Kopf, in dieser Stadt und in dieser Gesellschaft. In einer Gesellschaft, die einen leeren, unerfüllten, unzufriedenen und entfremdeten Geist produziert. Ein schweres Gemüt. Ein Grund, weshalb viele Menschen heute mit Überforderung, Angstzuständen, Depressionen oder Burnouts zu kämpfen haben, ist die «soziale Beschleunigung» und die «Rhetorik des Müssens», beide Begriffe geprägt vom Soziologen Hartmut Rosa. Rosa beschreibt in seinem Buch «Beschleunigung und Entfremdung», wie die Logik des Wettbewerbes in allen Sphären des sozialen Lebens vorherrscht und wie die Individuen sich in einem dauernden Konkurrenzkampf um Bildungsabschlüsse, Jobs, Einkommen, Erfolg, Konsum wie auch um Freund*innen und Partner*innen befinden. Wir erleben also nicht nur beruflich einen Wettbewerb, sondern auch sozial, so Rosa: «Wenn wir uns nicht als nett, interessant, unterhaltsam und attraktiv genug präsentieren, wenden sich Freunde und sogar Verwandte recht schnell von uns ab». Die Position eines Individuums wird nicht mehr (nur) durch Geburt bestimmt und bleibt über das Erwachsenenleben nicht stabil, sondern ist Gegenstand «permanenter kompetitiver Aushandlung». Wir müssen also immer wieder enorm viel Energie aufwenden, um unser Selbstbild und unsere Fremdwahrnehmung aufrechtzuerhalten. Wir müssen immer schneller tanzen, immer schneller rennen, denn «die Konkurrenz schläft nicht». Wir befinden uns in einem Beschleunigungszirkel, der besagt, dass wir in kürzerer Zeit immer mehr machen müssen. Dieses Hamsterrad, das wir kaum verlassen können, befriedigt aber nicht unseren Lebenshunger, sondern frustriert uns, weil wir immer das Gefühl haben, «zu wenig zu machen». Zeitverschwenden gilt heute als Sünde, während unser Leben von der «Macht der Deadlines» bestimmt wird und wir ständig das Gefühl von Zeitknappheit und «Gegenwartsschrumpfung» verspüren. Rosas Analyse der heutigen Zeitnormen ist alarmierend: Er meint, das heutige Regime der sozialen Beschleunigung nehme allmählich eine Form der totalitären Herrschaft an, das «die ihm Unterworfenen dazu bringt, nachts schweissgebadet und von entsetzlicher Angst gepeinigt, mit einem unerträglichen Druck auf der Brust aufzuwachen, in der Erwartung, dass ihr sozialer Tod (oder ihr tiefer Fall) mehr oder minder unvermeidlich sei». Die Beschleunigung ist so allumfassend, dass Folgendes passiert: Sie übt einen so grossen Druck auf die Subjekte aus, sodass diese stets befürchten, zurückzufallen, nicht mehr mitzukommen oder abgehängt zu werden und daher eine Pause einlegen zu müssen. Es besteht meiner Meinung nach eine enorme Dringlichkeit, sich mit der sozialen Beschleunigung und deren Konsequenzen zu befassen, da sie unaufhörlich angetrieben, also nicht langsamer, sondern immer schneller wird. Wie oft denken wir: «Ich muss nun wirklich arbeiten. Ich muss die Steuererklärung einreichen. Ich muss etwas für meine Fitness tun. Ich muss eine weitere Fremdsprache erlernen. Ich muss meine Hard- und Software aktualisieren. Ich muss die Nachrichten sehen» (Hartmut Rosa). Nicht ohne Grund schreibt Kenneth Gergen, dass das tägliche Leben ein Meer von Forderungen geworden ist, das uns überflutet. Land sei dabei keines in Sicht. Die Kräfte der Beschleunigung fühlen sich nicht als befreiend an, sondern als unterdrückerische und permanenten Druck ausübende Macht. Zuletzt bewirkt sie auch eine Entfremdung gegenüber sich selbst und gegenüber der Welt: wir fühlen uns entfremdet, weil wir nicht wirklich wissen, wer Macht auf uns ausübt, so Rosa: «Wir mögen uns entfremdet fühlen, wenn wir den ganzen Tag bis Mitternacht arbeiten, ohne dass uns dies jemand vorschreibt». Wir zweifeln an den Zielen und Praktiken unseres Tuns und doch müssen wir «irgendwie so handeln». Wir handeln oft gleichzeitig ‘freiwillig’ aber auch ‘gegen unseren eigenen Willen’ und wenn wir über lange Zeit so handeln, vergessen wir irgendeinmal, was unsere eigentliche Absicht war und es bleibt ein vages Gefühl der «Fremdbestimmung ohne Unterdrücker». Wenn wir entfremdet sind, tun wir also freiwillig Dinge, die wir nicht wirklich tun wollen und wir sammeln vermehrt Erlebnisse anstatt Erfahrungen; wir tun entsinnlichte Aktivitäten anstatt sinnstiftende Beschäftigungen, was bewirkt, dass uns unsere aufgewendete Zeit als fremd erscheint. Zudem pflegen viele von uns so viele soziale Kontakte in so kurzer Zeit, dass wir völlig übersättigt sind, was es unwahrscheinlich macht, dass wir wirklich zueinander in Beziehung treten. Fakt ist demnach, dass jeder Bereich unseres Lebens von sozialer Beschleunigung durchdrungen ist. Die Beschleunigung ist nicht nur für unser Berufs-, Sozial- und Privatlebend bestimmend, sondern auch in politischen Belangen: Rosa beschreibt adäquat, dass in der heutigen Politik nicht mehr das bessere Argument, sondern flüchtige Bauchgefühle zählen und vorwiegend Metaphern und Bilder, die schneller funktionieren als Worte, verwendet werden. Dabei werden vor allem leere Worte gebraucht, die das reflexive Bewusstsein nicht beanspruchen, um eine Entscheidung zu fällen: «Argumente, die sinnvoll sind, verlieren angesichts der Geschwindigkeit des sozialen Lebens an Wichtigkeit und sind ‘zu langsam’ geworden». Nicht nur angesichts der Tatsache, dass gut durchdachte, wissenschaftliche oder komplexe Argumente politisch ihre Bedeutung verloren haben, sondern auch weil die Gefahr besteht, dass wir nicht mehr aus dem Delirium des «rasenden Stillstandes» rauskommen, ist die soziale Beschleunigung höchst politisch. Und trotzdem gibt es keine politische Debatte über sie oder ihre psychologischen, spirituellen und seelischen Konsequenzen. Vielmehr werden Menschen in verschiedenen Diskursen für ihr ‘schlechtes Zeitmanagement’, ihr individuelles Versagen oder ihre Faulheit verantwortlich gemacht, wenn sie den Eindruck haben, nicht mehr mitzukommen. Das Gefühl der Erschöpfung, das ich und etliche andere Menschen erleben, ist eine Form der Verlangsamung, eine Reaktion auf den überhöhten Beschleunigungsdruck. Der ständige Produktivitäts- und Performanzdruck kann langfristig auch dazu führen, dass unsere Reflexivität und Autonomie verloren gehen und wir es nicht mehr schaffen, kreative, radikale Transformationen einzuleiten. Wie sollen wir als Gesellschaft und als Welt menschlicher, gerechter und gesünder werden, wenn die jungen, motivierten, hoffnungsvollen und hoffentlich noch optimistischen Subjekte erschöpft, ausgelaugt und uninspiriert sind? Wie sollen wir als Kollektiv weiterkommen, wenn wir als Individuen untergehen? Kollektive oder politische Lösungsansätze gibt es wenige. Die meisten davon schieben den Individuen die Verantwortung zu und empfehlen ihnen individuelle Entschleunigungspraktiken wie Yoga, Meditation, Wandern oder das Einlegen von kurzen Verschnaufpausen. Oftmals dienen diese Inseln der Entschleunigung im Alltag aber nur dazu, im Rennen noch schneller zu sein. Die Empfehlungen erinnern vielmehr an Formen der spirituellen Produktionssteigerung als an wirklichen Widerstand gegenüber der «Grind Culture», der Kultur des immerwährenden Hustles. Ein kollektiver Lösungsansatz könnte die Fokusverschiebung von individuellem Erfolg, Leistungsfetisch und Glorifizierung von Überbelastung hin zu mehr Gemeinschaft, Sorgfalt, Fürsorge und Ruhe sein, geprägt von beispielsweise Tricia Hersey, Gründerin des Projektes «The Nap Ministry». Sie fokussiert in ihrer Arbeit auf den Zusammenhang zwischen weisser Vorherrschaft, Rassismus und Kapitalismus und wie das Ausruhen insbesondere für BIPOC eine wirksame, heilende Widerstandsstrategie gegenüber ausbeuterischen und traumatischen Strukturen darstellt. Ihre Wissenschaft und Theorie, die schon von ihren Vorfahren praktiziert worden war, betont, dass ‘Naps’ nicht dazu da sind, um danach wieder genau gleich weiterzumachen oder sogar noch schneller, im Gegenteil: «We are NOT resting to be more productive. We are resting because we are divine and it is our divine right to do so. That’s it». Hersey erklärt, dass das kapitalistische, beschleunigte System uns das Gefühl gibt, wir hätten zu funktionieren wie Maschinen und nicht wie Menschen mit Träumen und Utopien. Zudem führe die Kapitalisierung unserer Körper und unseres Geistes dazu, dass wir emotional abhärten: «The system makes us hard. Rest keeps us tender. There is power in the collective rest and care». Damit wir also kreative, befreiende Gedanken entwickeln können, müssen wir ausgeruht sein, denn «exhaustion will not create liberation». Nur wenn wir ausgeruht sind, kümmern wir uns um das Wohlbefinden anderer, um den Zustand der Gemeinschaft und unser aller Gemeinwohl.
- Von Brosamen und Lippenbekenntnissen
Über den Rückstand im Schweizer Frauenfussball Das Exekutivkomitee der Uefa gibt am Dienstag bekannt, wo die Europameisterschaft 2025 stattfindet. Neben der Schweiz haben sich Frankreich, Polen, die Ukraine und ein Bündnis skandinavischer Länder beworben. Als Favoritinnen gelten Frankreich und der skandinavische Zusammenschluss, da diese Länder professionelle Ligen betreiben und den Frauen damit das Leben als Berufsfussballerin ermöglichen. Ein Entscheid zugunsten der Schweiz wäre historisch. Und scheitern könnte die Kandidatur nicht am aktuellen Bewerbungsdossier des Schweizerischen Fussballverbandes (SFV), sondern an der fehlenden Förderung des Frauenfussballs zuvor. Was die Geschlechterverhältnisse damit zu tun haben, erklären Lara Dickenmann, Lia Wälti, Martina Moser und Sandra Betschart. Der Schweizer Frauenfussball hat in den vergangenen Jahren an Aufmerksamkeit gewonnen, ist aber noch weit von der Professionalisierung entfernt. Wenn eine Spielerin der AXA Women’s Super League (AWSL) überhaupt etwas verdienen will, muss sie eine Teamleaderin sein – und kriegt trotzdem nur die Brosamen der Stammklubs. Die sportlichen Infrastrukturen sind ungenügend, das Medieninteresse gering, und es fehlt an Visionen und Investitionen. Männer wollen den Fussball männlich halten Der Rückstand hängt laut Lara Dickenmann, General Managerin (GM) der GC-Frauen und ehemalige Nati-Spielerin, mit den Geschlechterverhältnissen zusammen: «Die Geschlechter- rollen sind innerhalb des Fussballs konservativer und rückständiger als im Rest der Gesellschaft; die Männer versuchen, weiterhin den Fussball so männlich wie möglich zu halten.» Im Schweizer Fussball regiere die Vettern- und Misswirtschaft, fügt sie an. Deshalb seien viele Schlüsselpositionen mit den falschen Personen besetzt. Lippenbekenntnisse statt Taten seien die Regel: «Sie sagen zwar alle, dass sie für den Frauenfussball sind und ihn priorisieren wollen, aber am Ende des Tages passiert trotzdem nichts», erzählt Dickenmann. Lia Wälti, Profifussballerin bei Arsenal und Captain des Nationalteams, bestätigt das: «Auch in meinen Vereinen grassierte teilweise die Inkompetenz. Offensichtlich wurde Personal in den Frauenfussball ‹abgeschoben›, das im Männerfussball zu wenig professionell gearbeitet hatte.» Es sei zwar ein gutes Zeichen, dass nun vermehrt ehemalige Spielerinnen angestellt würden, doch fehle es an Stellenprozenten, kritisiert Martina Moser, ehemalige Nati-Spielerin. Marion Daube, die Direktorin des SFV, habe zu viele Aufgaben, wodurch sie sich zu wenig auf die Förderung und Vermarktung des Frauenfussballs konzentrieren könne, findet Dickenmann: «Auch in den Vereinen sind Sportchefinnen oft nur zu 20 Prozent angestellt, was nicht ausreicht, um Fortschritte zu erzielen.» Wenn weder in den Vereinen noch im Verband in mehr Fachpersonal investiert werde, zeige das doch nur, dass man nicht bereit sei, den Frauenfussball wirklich zu pushen, gibt Moser zu bedenken. Dabei müsste der Verband nur über den Ärmelkanal blicken: «In England hat die FA (Football Association) eine Abteilung zur Professionalisierung gegründet, die sich mit allen Stakeholdern und den britischen Grossklubs in Verbindung setzte», erklärt Dickenmann. Unterdessen wird hierzulande lamentiert, dass Frauenteams nur Geld kosten und keine Einnahmen generieren. Dabei werde laut Sandra Betschart General Manager der YB-Frauen und ehemalige Nati-Spielerin, grosszügig vergessen, dass auch in Start-ups zuerst investiert werden müsse und dass fast alle Schweizer Klubs ohne Mäzene im Rücken längst von der Bildfläche verschwunden wären. Kaum ein Verein schreibe nur durch den Sport schwarze Zahlen. Bessere TV-Zahlen beim EM-Final der Frauen Mediale Aufmerksamkeit könnte helfen, doch auch diese ist noch zu bescheiden: «Wer wenig Medienpräsenz hat, kann die Bevölkerung kaum für seinen Sport begeistern und hat Schwierigkeiten bei der Sponsorensuche», moniert Betschart. Im Gegensatz dazu knackt der Frauenfussball in anderen Ländern TV-Rekorde: In Deutschland verfolgten mehr Menschen den Final der Frauen-EM als die WM-Spiele der Männer. Die Schweiz bestaunte den Frauenfussball bisher aus der Ferne, was eine Heim-EM vielleicht ändern könnte. Lia Wälti, die in England diese Saison schon vor 48000 Menschen spielte, hofft auf einen Uefa-Entscheid zugunsten der Schweiz und darauf, dass die englische Frauenfussball-Euphorie auf die Schweiz überschwappt: «In England lohnt sich heute der Frauenfussball, weil sie daran glaubten. Irgendwann zahlt sich alles aus.» Dieser Gastbeitrag im Auftrag von CH-Medien wurde in verschiedenen Zeitungen publiziert.
- Wie das Patriarchat Kriege begünstigt
Eine feministische Analyse Der Krieg in der Ukraine, ausgelöst durch männlichen Grössenwahn und imperiale Herrschaftsgelüste, wirft einmal mehr die Frage auf, was es mit Männern und Krieg auf sich hat. Dieser Krieg zeigt in schrecklichem Ausmass, inwiefern die von Männern geführten Kriege das Leben etlicher Menschen zerstören. Zeitgleich kämpfen Frauen in einer Vielzahl von Ländern an vorderster Front für ein friedlicheres Zusammenleben und gegen patriarchale Herrschende: Im von den Taliban zurückeroberten Afghanistan stehen Mädchen und Frauen für ihr Recht auf Bildung ein, während das zivile Aufbegehren im Iran als «feministische Revolution» betitelt wird. Der kurdisch-feministische Slogan «Jin, Jîyan, Azadî» (Frauen, Leben, Freiheit) ertönt im ganzen Land und ver- sinnbildlicht den von iranischen Frauen, Queers und politisch-ethnischen Minderheiten angeführten Aufstand. Männer führen Kriege und Frauen stiften Frieden, könnte man schliessen. Obwohl diese Aussage essenzialisierend und vereinfachend ist, trifft sie in vielen Fällen zu: Denn patriarchale Gesellschaftsstrukturen begünstigen bewiesenermassen kriegerische Auseinandersetzungen. Um binärem Denken entgegenzuwirken und das Zusammenspiel von Patriarchat und Krieg wirklich zu verstehen, bedarf es einer tiefergreifenden, feministischen Analyse. Feministische Kriegs- und Friedensforschung Feministische Kriegs- und Friedensforschung betont in einem ersten Schritt, dass es keine universelle und statische Definition von Krieg und Frieden gibt, sondern dass dies fluide, orts-, kontext- und zeitabhängige Prozesse sind. Das feministische Ziel besteht darin, bereits vorhandenes Wissen zu «verkomplizieren» sowie Kontextualität, Mehrdeutig- keiten und Überschneidungen hervorzuheben. So werden der Status Quo und die Erkenntnisse der «traditionellen»Kriegsforschung, einschliesslich der binären Gegenüberstellung von Krieg und Frieden, kritisch beleuchtet. Das binäre Verständnis von Krieg und Frieden suggeriert, dass aus einer «friedlichen» Situation heraus mit dem ersten Geschützfeuer ein Krieg begonnen wird, der mit dem unterschriebenen Friedensvertrag ähnlich abrupt wieder endet. Feministische Forscherinnen dekonstruieren Binaritäten und zeigen, dass Krieg und Frieden sich nicht «ablösen», sondern dass Krieg als «Kontinuum von Gewalt» zu verstehen ist. Krieg und Frieden können, so die indische Kriegsforscherin Swati Parashar, koexistieren: «Menschen leben in Kriegen, mit Kriegen, und der Krieg lebt mit ihnen lange nachdem er beendet ist. Kriege beginnen im Frieden und es gibt Frieden im Krieg.» Ausserdem gibt es Formen des Friedens, die von Gewalt durchtränkt sind: Dabei handelt es sich laut der Forscherin Sara Shroff in Anlehnung an Franz Fanon um «friedliche Gewalt» und somit um Zustände des «geregelten Friedens», welcher in (direkter oder struktureller) Gewalt verwurzelt ist. Krieg wird unterschiedlich erlebt Eine feministische Analyse schafft ein Verständnis dafür, dass Menschen abhängig von ihrer geschlechtlichen Identität, äusserlichen Erscheinung, ethnischer und Klassenzugehörigkeit sowie sexueller Orientierung in Kriegen zwar ähnlichen Situationen ausgesetzt sind, diese aber auf andere Art und Weise erleben. Fakt ist laut der Schweizer Politikwissenschaftlerin und Geschlechterforscherin Leandra Bias, dass alle Menschen unter Krieg leiden, es aber bei geschlechtsspezifischer Friedensforschung darum geht, aufzuzeigen, wer wie leidet. Während Männer eher von «direkter Waffengewalt» (zum Beispiel: im Gefecht erschossen werden) betroffen sind, leiden Frauen häufiger unter den Konsequenzen «indirekter Gewalt»: Sie bangen um und verlieren Familienangehörige, müssen alleine flüchten und ihre Familien ernähren und leiden häufiger unter sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt. Intersektionalität in Konflikten Nebst der Geschlechtsidentität beeinflussen auch die Hautfarbe, sichtbare ethnische oder religiöse Zugehörigkeiten und Nationalität die Kriegserfahrungen. So wurde afrikanischen Studierenden in der Ukraine beim Kriegsausbruch aufgrund ihrer Hautfarbe der Eintritt in die Züge nach Polen und Ungarn verweigert. Viele von ihnen, die es doch in einen der Züge geschafft hatten, durften schliesslich an den polnischen und ungarischen Grenzen nicht passieren. Dieses Beispiel zeigt, inwiefern Minderheiten in Konflikten besonders vulnerabel sind. Während im Iran und in Afghanistan alle Bürger:innen unter den Gewalttaten der Regierenden leiden, werden religiöse respektive ethnische Minderheiten noch stärker bedroht (in Ersterem christliche Minderheiten und in Letzterem ethnische Minderheiten wie die «Hazara»). Unsere Gesellschaft sieht alles durch die Brille der Geschlechterrollen: Etwas vom Ersten, das Menschen unbewusst tun, wenn sie einer fremden Person begegnen, ist, ihr ein Geschlecht zuzuordnen. In Anbetracht dessen, dass unser soziales Geschlecht beeinflusst, wie wir uns verhalten und wahrgenommen werden, scheint es nichts als logisch, dass Geschlechterrollen auch in Kriegen eine zentrale Wichtigkeit einnehmen. So existieren stereotypische Zuschreibungen gegenüber Männern und Frauen im Krieg: 1993 beschrieb der Militärhistoriker John Keegan Kriegsführung als eine «rein männliche Aktivität», von welcher sich Frauen «immer und überall» ferngehalten hätten. Denn: «Frauen kämpfen nie – in militärischem Sinne – gegen Männer.» Da die Geschlechtszugehörigkeit die Kriegserfahrungen von Menschen enorm stark beeinflusst, wird Kriegsführung als «vergeschlechtlichtes» Phänomen definiert. Männliche und weibliche Kriegsstereotypen Kriegsführung als «vergeschlechtlichte» Praxis wird typi- scherweise mit einer Männlichkeit assoziiert, die auf Stärke, Mut, Aggression und Gewalt basiert. Der typische Krieger im kollektiven Gedächtnis ist männlich, physisch stark, aggressiv, mutig und zeigt keine Schwäche. Demgegenüber werden Frauen in Kriegsgeschichten stereotypisch als «schöne Seelen» dargestellt, Kriegsopfer oder Friedensstifterinnen, die vom männlichen Krieger beschützt werden müssen. Da Frauen als schwach und unpolitisch gelten – als Symbol des Guten und als Trägerinnen der nationalen Identität – müssen sie von allem Bösen ferngehalten werden. Sie sollen nichts mit kriegerischen Aktivitäten zu tun haben, sondern Liebe und Nahrung für die Kämpfer bereitstellen, den Krieg moralisch unterstützen und neue Soldaten gebären. Während weibliche Handlungsmacht und politisch-militärische Beteiligung negiert werden, gerät gleichzeitig in Vergessenheit, dass auch Männer nicht nur stereotypisch männliche Aktivitäten durchführen, sondern während Kriegen auch nähen, kochen, waschen und Verwundete pflegen. Friedliche Männer und kriegerische Frauen Obwohl es zutrifft, dass Männer in Kriegen grundsätzlich als bewaffnete Soldaten eingesetzt werden und Frauen eherunbewaffnete Rollen einnehmen, gibt es diverse Beispiele von Kriegsbeteiligten, die ihre zugewiesene Geschlechterrolle dekonstruierten. So weigerte sich der US-amerikanische Soldat Desmond Doss im Zweiten Weltkrieg, sich zu bewaffnen und andere Soldaten zu töten. Er verpflichtete sich ausschliesslich, als Sanitäter auszuhelfen und rettete 75 Kameraden, ohne jemals eine Waffe zu berühren. Während viele Männer den Kriegsdienst verweigern – so auch in der Ukraine und in Russland –, gibt es Frauen, die in den bewaffneten Krieg ziehen wollen. So existierte in Westafrika bereits im 19. Jahrhundert die aus Frauen bestehende, brutale Eliteeinheit «Agojie», die die Region militärisch dominierte (siehe aktueller Film «The Woman King»). Für Schlagzeilen sorgen auch die YPJ (Yekîneyên Parastina Jin), eine rein weibliche, kurdische, militärische Frauenverteidigungseinheit und politische Organisation aus Rojava in Syrien. Sie erlangte 2014 internationale Aufmerksamkeit, weil sie den ISIS erfolgreich aus der Region vertrieben hatte, und wird weltweit für ihren Mut gefeiert. In unseren Gesellschaften existieren verschiedene Männlich- und Weiblichkeitsbilder, welche konstruiert, aber auch verhandel- und transformierbar sind. In Kriegskontexten werden Weiblich- und Männlichkeiten immer wieder politisch mobilisiert: Laut Leandra Bias sei Putin ein Paradebeispiel für dieses Phänomen, weil er die Ukraine immer wieder «verweibliche» und in seinen Reden als eine Art Frau darstelle. Während er sich als Topless-Bärenkämpfer fotografieren lässt und so eine stereotypische Männlichkeit reproduziert, ist die Ukraine seine Unterworfene, die er mit Gewalt «bändigen» muss. Das Beispiel von Putins Russland zeige auf, inwiefern ein stark patriarchales Weltbild Kriege begünstigt: Denn Putins maskulinistische Aussenpolitik beruht auf einer imperialen Ideologie, bei der der Stärkere den Schwächeren dominiert – wie auch im Patriarchat. Das Patriarchat tötet Unter Patriarchat wird wortwörtlich «Väterherrschaft» oder «Vaterrecht» verstanden. Kristina Lunz, feministische Aktivistin, Autorin und Gründerin des «Centre for Feminist Foreign Policy» beschreibt das Patriarchat in einer ihrer Kolumnen als «Gesellschaftsordnung, in der das männliche Familienoberhaupt die rechtliche und ökonomische Macht über die von ihm abhängigen weiblichen und männlichen Familienmitglieder ausübt». Es ist laut Lunz nicht das Geschlecht – denn wenn wir geboren werden, haben wir dasselbe Gewaltpotential. Es ist vielmehr die Machtkonzentration, die zu Machtmissbrauch führt, den Männern Macht gibt und männliche Gewalt gegenüber Frauen legitimiert. Feministische Organisationen weisen seit Jahrzehnten darauf hin, wie Militarisierung, Kriegsführung und Patriarchat zusammenhängen. Sie zeigen auf, dass alle Arten von Waffenbesitz dazu beitragen, dass geschlechtsspezifische Gewalt ermöglicht und ausgeübt wird. Beispielsweise ist Schusswaffengewalt für viele sexuelle und geschlechtliche Minderheiten ein grosses Problem. So wurden 2017 60% aller getöteten LGBTQI+-Personen in den USA durch Schusswaffen getötet. Laut einer Studie von Small Arms Survey 2012 wurden Frauen bei einem Drittel aller Femi-zide weltweit durch eine Schusswaffe getötet und zudem ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Opfer häuslicher Gewalt getötet wird, fünfmal höher, wenn der Partner Zugang zu einer Schusswaffe hat. Abrüstung und Waffensicherheitsgesetze können Leben retten und verhindern, dass Waffen als Mittel der Einschüchterung, des Zwangs und Missbrauchs eingesetzt werden. Feministische Friedensforschung zeigt, dass Aufrüstung und Militarisierung das Leben der Menschen nicht schützen, sondern gefährden. Trotz wissenschaftlicher Evidenz und breiten Abrüstungsforderungen stiegen die weltweiten Militärausgaben 2022 das siebente Jahr in Folge und erreichten im Jahr 2021 einen historischen Höchststand. Weltweit steigen die Rüstungsausgaben konstant an, sogar bei Nuklearwaffen, die seit Januar 2021 unter internatio- nalem Recht verboten sind. Auch die Schweizer Rüstungsindustrie erreichte 2020 ihr Allzeithoch. Während Staaten ihre Grenzen militärisch verteidigen, fordern feministische Friedensaktivist:innen Abrüstung, Demilitarisierung, weniger Grenzschutz und Abschreckungspolitik. Menschliche Sicherheit fokussiert deshalb auf das Wohlergehen der Zivilbevölkerung, auf Ernährungssicherheit, Gesundheit, Jobsicherheit, Umweltschutz und sozialen Fortschritt. Feministische Aussen- und Sicherheitspolitik Im letzten Jahrzehnt haben verschiedene Staaten begonnen, ihre Aussenpolitik als feministisch zu bezeichnen. Schweden hat 2014 eine feministische Aussenpolitik eingeführt, gefolgt von Kanada, Frankreich, Luxemburg, Mexiko, Spanien und Kolumbien. Obwohl ihre Umsetzung aufgrund von Inkohärenz und Doppelmoral oft kritisiert wird, hat sie hohes Potential, da sie Menschenrechte von Frauen, Mädchen und anderen politischen Minderheiten in die aussenpolitischen Ziele eines Landes integriert. Feministische Aussenpolitik bedeutet, dass in aussenpolitischen Verhandlungen konsequent eine Genderperspektive eingebaut wird, Minderheiten einbezogen werden, Armut bekämpft und der Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung garantiert wird. Eine kohärente feministische Politik muss auch innenpolitische Massnahmen einschliessen, wie beispielsweise eine Umverteilung von Ressourcen. Bias schlägt vor, anstatt Milliarden ins Verteidigungsdepartement zu stecken, ein Friedendepartement zu gründen und darin zu investieren. Feministische Politik hilft nicht nur Frauen Im Kontext der Aussenpolitik bedeutet Feminismus konsequenterweise, die bestehenden Hierarchien in internationalen Beziehungen abzubauen sowie den Glauben, man müsse andere Staaten durch militärische Stärke und Waffengewalt dominieren, um selbst stark zu sein. Die Ansicht, dass zwischenstaatliche Probleme mit Waffengewalt gelöst werden müssten, weil alles andere als schwach und «verweiblicht» gilt, muss verschwinden, denn diese Logik garantiert weder menschliche Sicherheit noch nachhaltigen Frieden. Wichtig ist, dass sich eine feministische (Frie- dens-)Politik nicht nur auf Frauen bezieht: «Es ist unmenschlich, dass Männer im Krieg als Waffen eingesetzt werden, sowie die Traumatisierung, die damit einhergeht. Den Männern wird die Verwundbarkeit abgesprochen», meint Leandra Bias. Empirische Analysen von feministischen Forschenden beweisen, dass die Unterdrückung von Frauen direkt mit dem Wohlergehen von Nationen zusammenhängt. Lunz argumentiert, dass jene Gesellschaften, die Frauen am meisten missachten, massiv instabil seien und geprägt von schlech- terer Regierungsführung, schlimmeren Konflikten, geringerer Wirtschaftsleistung, schlechter Gesundheit, weniger Umweltschutz und Ernährungssicherheit. Ausserdem sind Friedensabkommen erwiesenermassen nachhaltiger und längerfristiger, wenn Frauen an den Friedensverhandlungen beteiligt sind. Dies nicht, weil sie friedvollere Wesen sind, sondern weil sie diversere Interessen einbringen und auch andere marginalisierte Gruppen wie indigene Bevöl- kerungsschichten und Menschen mit Behinderung einbeziehen. Wenn ein Friedensabkommen von breiten Schichten der Bevölkerung abgestützt wird, dann hält der Frieden massiv länger. Der Kampf geht weiter Immer dann, wenn feministische Bewegungen an den Grundfesten des Patriarchats rütteln, schlägt das Patriarchat mit aller Wucht zurück. So ist ein globaler antifeministischer Rückschlag zu beobachten, welcher die Menschenrechte von Frauen und LGBTQI+-Menschen zu untergraben versucht. Die Abtreibungsverbote in Polen und den USA, die Ermordungen von Frauen und queeren Menschen im Iran und die Untergrabung der Prinzipien der feministischen Aussenpolitik durch die neue schwedische konservative Regierung versinnbildlichen diesen Backlash. Diese Entwicklungen sollen uns nicht entmutigen, sondern motivieren, weiterhin und überall gegen patriarchale, koloniale und rassistische Strukturen aufzubegehren. Für Frauen, Leben und Freiheit. Dieser Beitrag ist in Zusammenarbeit mit der feministischen Zeitschrift FAMA entstanden und wurde in ihrer 1. Ausgabe von 2023 publiziert.